Schwerpunkt Minderheiten und Demokratie in Europa

Meine Schwerpunkte/Vorträge zum Thema:

  • Geschichte der Minderheitenrechte in Europa
  • Flucht, Exil, Vertreibung im 20. Jahrhundert
  • Migration und Integration in Europa nach 1945
  • Diverstitätsdemokratien? Minoritäten, Demokratie und Politik
  • Universalismus und Partikularität: Kämpfe um Identitätspolitik

Minderheitenrechte, Demokratie und Diversitätsideen in Europas Geschichte: eine Einführung

„The community of European people went to pieces when, and because, it allowed its weakest member to be excluded and persecuted.

(Hannah Arendt, We Refugees)[1]


Die jüdisch-deutsche Philosophin Hannah Arendt macht in ihrem heute wieder hochaktuellen Essay We Refugees deutlich, was ich in meiner Forschung zeigen möchte: Die Verfolgung von Minderheiten betraf und betrifft ganz Europa. Und: Der Status von Minoritäten ist ein zentraler Lackmustest für Demokratie und Menschenrechte aller Bürgerinnen und Bürger.

Arendt schrieb ihren Text zu einem Zeitpunkt, als Europas Minderheiten durch den NS-Staat verfolgt und ermordet wurden. Die historisch erkämpften Bürgerrechte für Juden und die ersten Erfolge des Minderheitenschutzes schienen unwirksam geworden [2]. Auch diejenigen, die sich durch Flucht ins Exil retten konnten, waren zu Spielbällen der Politik geworden.

Was sind Minderheitenrechte?

In verschiedenen Projekten habe ich mich damit beschäftigt, was jeweils unter Minderheitenrechten historisch und aktuell verstanden wird: Diese haben grundsätzlich immer eine dreifache Dimension, sind einerseits Rechtsnormen nach dem Prinzip der Gleichheit, wie sie etwa durch die Französische Revolution in der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte erstmals verwirklicht wurden, bedeuten aber auch Schutz vor Verfolgung, Ausgrenzung und Gewalt. Rechte für Minderheiten sind allerdings ebenso potenziell Sonderrechte auf Grundlage von Differenz, die etwa Minderheitensprachen oder Kultur betreffen. Minderheitenrechte stehen somit stets in einem Spannungsverhältnis von Partikularismus und Universalismus, sind verknüpft mit Fragen nach Staatsbürgerschaft, Partizipation und Säkularität und betreffen unser Zusammenleben unmittelbar [3].

Dabei sind die Ideen der Diversität und des Minderheitenschutzes genuine Vorstellung der Moderne: Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich der Begriff „Minderheit“ verbreitet, ihr Schutz galt spätestens seit 1918/19 in Europa als wichtiges Anliegen. Minderheitenrechte und der Begriff „Minderheit“ entstanden komplementär zur Nationsidee [4]. In der Zwischenkriegszeit stieg dieser zu der entscheidenden internationalen Angelegenheit auf, um schließlich zunächst nach 1945 zugunsten der Menschenrechte von der internationalen Bühne zu verschwinden. Dieses Verschwinden ist auch und vor allem dem Missbrauch von Minderheitsrechtsvorstellungen durch das „Dritte Reich“ zu verdanken — Adolf Hitler und die NSDAP nutzten die vermeintliche Unterdrückung deutscher Minderheiten, um 1938 das „Münchner Abkommen“ — und damit das Ende des Europa der Zwischenkriegszeit — durchzusetzen. Erst nach 1989/90 drängte die Frage nach dem Umgang mit ethnischen, nationalen, religiösen, heute auch geschlechtlichen, Minderheiten mit Macht zurück ins Politische.

Vom „Untertan“ zur Minderheit
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als der Begriff „Minderheit“ erstmals genutzt wurde, blieb das Konzept des „Untertans“ im Europa der Vielvölkerstaaten zentral – das keine Einteilung der Bevölkerung in „Mehrheit“ und „Minderheit“ kennt [5]. Der Begriff „Minderheit“ wird erst in der Hochmoderne prominent, oder, wie es Konrad Köstlin formuliert hat: „Minderheit ist eine Kategorie der demokratischen Moderne“ [6]. Minderheitenfragen und das Verständnis von Demokratie sind bereits historisch eng miteinander verbunden. Im Sinne von Eric Hobsbawm, der den Zusammenhang zwischen der Nationsidee und Moderne untersuchte, muss dieser Konnex auch für den Minderheitenbegriff gelten. Seine Adaption hängt mit zwei ganz unterschiedlichen Aspekten der Geschichte Europas zusammen, einmal mit der kolonialen Aufteilung Afrikas im „Berliner Kongress“ 1878 und dem Großmachtstreben europäischer Staaten, zum anderen wurden Minderheitenrechte im Zusammenhang mit der zunehmenden Demokratisierung europäischer Gesellschaften erstmals gedacht und ausformuliert . Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es sowohl koloniale etwa (1) deutsche Minderheiten, im Bismarckreich fand sich eine starke (2) polnische Minderheit, die Repräsentation forderte, ferner betraten eine (3) internationale jüdische Minderheit sowie auch eine (4) armenische Minderheit die Bühne der Weltpolitik [7].

Schutzrechte für jüdische Bürger, verliehen von Napoleon 1806 — ein wichtiger Schritt der Judenemanzipation in Europa

Minderheiten und Macht
Minderheitenrechte verbanden von Beginn an den Schutz von nationalen und religiösen Minority Groups eng mit Macht, Herrschaft und Ordnung. Diese Verbindung hatte ein wesentliche, in der Geschichte wirkmächtige Schlagseite: Sie sorgte dafür, dass bei sozialen Unruhen, Erhebungen und Erschütterungen Minderheiten besonders leicht national wie international zu Sündenböcken für Verfehlungen der „Herrschaft“ in Dienst genommen werden konnten. Die Zonen der Aushandlung des Minderheitenschutzes waren einmal die (1) zwischenstaatlichen Beziehungen, zum anderen auch die (2) jeweiligen nationalen Medien sowie die (3) Organe und Institutionen transnationaler Zusammenschlüsse wie der Völkerbund oder der Europäische Nationalitätenkongress [8]

Die Instrumentalisierung der Minderheitenrechte in der Zwischenkriegszeit

Aus der Nationalitätenfrage wurde in der Zwischenkriegszeit die Minderheitenfrage, so Holly Case. [9] Es ging bei den Schutzbestimmungen auch in neu geschaffenen Nationalstaaten, die heterogen zusammengesetzt waren, [10] um zentrale Fragen der Vielfalt, die heute noch aktuell sind: Sprachpolitik beispielsweise, Assimilationsbestrebungen, und in vielen Ländern wie Italien um eine „Italianisierung“ [11] der Minderheiten, also um mehr oder weniger staatlich verordnete, teilweise zwangsweise Anpassungspolitiken an die Mehrheit. [12] Minderheitenpolitik wurde gleichzeitig zu einem Ausweis der Zugehörigkeit einer neuen, moralisch gedachten Werte- und Weltgemeinschaft. Die Minderheitenfrage wurde eng mit dem Gebot nationaler Selbstbestimmung verbunden und auch, die Wurzeln heutiger Social Justice, als Teil einer Art Moralpolitik gesehen – eine neue Weltordnung sollte entsprechende Institutionen beinhalten, [13] welche Wegweiser für Minderheitenschutz würden . Somit war Minderheitenpolitik bereits zu dieser Zeit, zwischen 1918 und 1938, ein zentrales Feld politisch-moralischer Aushandlungsprozesse in Europa.

Nach 1989: Rückkehr der Minderheitenfrage und Ausweitung des Begriffs

Historische Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Vielfalt, Bürger- und Menschenrechte waren konstitutiv für die Entstehung des modernen Europa. Oftmals wurden diese Rechte von Menschen und Gruppen eingefordert, die marginalisiert waren, als Minderheit, als „anders“ galten. Dabei ging es nicht nur um materielle Ressourcen, sondern auch um soziale Anerkennung, gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion. Neue Brisanz gewann die Minoritätenfrage nach dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90, als Staatenlosigkeit, Konflikte um Grenzen sowie um Minderheiten in ethnisch pluralen Staaten wie Ex-Jugoslawien die internationalen Schlagzeilen bestimmten. Der Zusammenbruch des Kommunismus ermöglichte eine weitere Ausdehnung von Menschenrechten; allerdings wurde auch die Dringlichkeit der Etablierung von Minderheitenrechten deutlich. Die Situation der Roma-Minderheit im erweiterten europäischen Raum hatte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in gewisser Weise verschlechtert. [14] Hinzu kommen neue Minderheiten durch Migration – etwa durch sog. „Gastarbeiter“, Asylsuchende, Flüchtlinge. Das neue Europa ist also in mehrfacher Hinsicht, sowohl innerhalb der Staaten wie transnational und auch in Hinsicht auf seine Außenwirkung geprägt von der Frage nach adäquaten Minderheitenrechten.

Citizenship und Staatsbürgerschaft im neuen Europa

Für die Ideen von Diversität und Minderheitenschutz wurden daher auch unterschiedliche nationale Praxen im Umgang mit Migration und Staatsbürgerschaft maßgeblich. [15] Wie Immigranten sich integrieren oder nicht, dies hängt in Europa auch von den Staatsbürgerkonzepten ab und ist damit wiederum eng verknüpft mit Vorstellungen von Demokratie und Teilhabe. In Europa gab es drei grundlegende europäischen Modelle der Staatsbürgerschaft und Integration: das französische Konzept des Republikanismus, ein deutsches „ethnisches“ Staats- und Nationsverständnis und der britische Multikulturalismus. Dabei wurde das französische Modell oftmals in den Gegensatz zum deutschen gebracht: Ius sanguis versus Ius soli, das heißt, Zugehörigkeit zur Nation entweder durch den gemeinsamen Boden, das Territorium oder durch das so genannte „Blut“. [16] Grundlegende Idee des Multikulturalismus ist, dass Ziel von Zuwanderung nicht die Anpassung der neu Hinzukommenden ist. Unterschiede der Herkunft und Kultur sollen frei gelebt werden können und so ein vielfältiges Ganzes bilden. Eine Idee, die auch in den Niederlanden lange dominant war und in der Bundesrepublik viel diskutiert wurde. [17] Neben dem grundlegenden Verständnis der Nation im Ankunftsland und der Möglichkeit, einen Pass zu erhalten, hat die Integrationsforschung aber auch Wohnen und Arbeiten sowie politische Teilhabe als wesentliche Faktoren für gelingendes „Ankommen“ ausgemacht.

Heute, nach Jahren der Immigrationsgeschichte Europas nach 1945, haben sich die Modelle Frankreichs, der Bundesrepublik und Großbritanniens zunehmend angenähert, [18] die Fragen nach Citizenship, nach kulturellen Rechten, nach Integration ähneln sich, und auch die möglichen politischen „Lösungen“ wie Staatsbürgertests. Partizipationsmöglichkeiten wie etwa Beratungsgremien religiöser Minderheiten existieren heute in vielen EU-Staaten.

Minoritäten als Akteure

Minderheiten, und „neue“ und „alte“ Minderheiten formierten sich in Europa wie andernorts durch Grenzverschiebungen, Migration und schließlich Neudefinition von Normen, diese waren und sind aber nicht einfach Objekte nationaler und internationaler Politik – sondern Handelnde, die wesentlich zu einem neuen Verständnis des Zusammenlebens in pluralen Gesellschaften beitragen: Aktivismus, verstanden als eine Form der Politikartikulation in Demokratien, die jenseits der Repräsentation in Parlament und Staat verläuft, gibt es seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Begriff geprägt wurde. Das Spektrum reicht von den Bürgerrechtsbewegungen dieser Zeit bis zu den „Black Lives Matter“ Aufständen in vielen europäischen Großstädten 2020. Historisch ist zu beobachten, dass die Bewegungen von Minderheiten langfristig als Katalysator politischer Anerkennungsprozesse wirken können. So fochten Sinti und Roma seit den 1970ern in Heidelberg für eine Anerkennung des NS-Opferstatus und für eine angemessene Integration in die Gesellschaft. [19] Seit 2018 gibt es etwa in Baden-Württemberg einen entsprechenden Staatsvertrag. Dennoch ist die Teilhabe von Minderheiten noch nicht ausreichend erforscht. Die Untersuchung von Minderheitenaufständen wie der Streik türkischer Gastarbeiter bei Ford 1973 bildet ein Forschungsdesiderat. [20] Studien, die sich mit Vorurteilen gegen Minderheiten auseinandersetzen, sind umfangreich; [21] doch der aktive Kampf von Minderheitenvertretern für einen Platz in den europäischen Gesellschaften wie auch die Geschichte der Ideen des Anti-Antisemitismus [22] und Antirassismus bleiben Forschungslücken oder sind vielfach hochpolitisiert.

Minderheitenpolitik wird in Europa vielfach vor allem als Sache der Nationalstaaten gesehen, vielfach kongruent mit Migrations-, Einwanderungs- und Integrationspolitik [23] – mit jeweils unterschiedlichen Implikationen, die auch von verschiedenen Demokratievorstellungen herrührten.

Europa und die Minderheitenrechte

Auf europäischer Ebene blieben spezifische Minderheitenrechte bis in die 1960er-Jahre weitestgehend ausgespart. [24] Doch neben der zunehmenden Heterogenität europäischer Gesellschaften führten der Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90 und die Kriege um Jugoslawien die Frage nach dem Minderheitenschutz erneut in die Öffentlichkeit der Medien und Europas. Neue Migrantengruppen dieser Zeit wie jüdische Kontingentflüchtlinge sorgten dafür, dass heute in Deutschland neben Frankreich und Großbritannien die größte Gruppe von Juden in Europa leben — und jüdische Gemeinden wieder wuchsen. Gleichzeitig waren etwa Sinti und Roma in den ehemals sozialistischen Staaten neuer Diskriminierung sowie auch der Staatenlosigkeit ausgesetzt, ihre Migrationsversuche wurden teilweise abgeschmettert oder mit Gewalt abgewiesen [25]. Die nationalen Probleme und Fragen, die sich durch Minderheiten ergeben, sind mittlerweile europäisiert: Minderheitenrechte wurden für Beitrittsländer aus Osteuropa zur „Eintrittskarte“. [26] Seit 2002 bekennt sich die EU ferner in ihrer Grundwertecharta explizit zur Diversität: „Die  Union“, heißt es hier,  „achtet  die  Vielfalt  [in der engl. Fassung: diversity, die Verf.] der  Kulturen,  Religionen  und  Sprachen.“ [27]

Die Zukunft der Minderheitenrechte — wie soll sie aussehen?

Der Status von Minoritäten ist ein zentraler Lackmustest von Demokratie und Menschenrechten aller Bürgerinnen und Bürger – doch wie genau das Verhältnis zwischen viel beschworener Diversität und Demokratie aussieht, diese Frage ist weiterhin offen und muss diskutiert werden. Denn die dahinter liegenden Vorstellungen und Politiken sind umkämpft, polarisieren gar die Öffentlichkeiten. Wir sehen uns in einem zunehmend plural werdenden Europa der alten und neuen Minderheiten mit Fragen der Integration und Repräsentation derselben, aber auch mit der Politikartikulationen durch unterschiedliche Minoritäten selbst konfrontiert. Zudem ist es zu einer stetigen Ausweitung des Minderheitenbegriffs gekommen: Heute zählen wir auch sexuell-geschlechtliche Minderheiten dazu. Doch wem kommen welche Rechte zu? Wie viel Differenz wollen Gesellschaften aushalten? Diese Fragen sind anhaltend aktuell.

Eigene Projekte und Publikationen zum Thema:

Projekt „Visionen der Vielfalt: Historische Ideen der Diversität und der Kampf um die Rechte nationaler, ethnischer und religiöser Minderheiten in Europa seit dem 19. Jahrhundert“, gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK) Baden-Württemberg (2018-2022)

Koordinatorin des Arbeitsbereichs „Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa“ an der Universität Heidelberg (2015-2017)

Projekt „Medialität der Menschenrechte“ (gemeinsam mit Dr. Martin Stallmann), gefördert mit Mitteln des Innovationsfonds FRONTIER im Rahmen der Exzellenzinitiative II der Universität Heidelberg (2015-2017)

Birgit Hofmann (Hrsg.), Menschenrecht als Nachricht. Medien, Öffentlichkeit und Moral seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2020 (Campus-Verlag)

Birgit Hofmann, »Was wir wollen – was wir brauchen, es ist […] unser Menschenrecht!«. Jüdische Medieninterventionen für Gleichheit, gegen Hassrede und »Fake News« um 1900, in: Dies. (Hrsg.), Menschenrecht als Nachricht. Medien, Öffentlichkeit und Moral seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2020, S. 69-98.

Birgit Hofmann, Zurück an die Arbeit? Die Universität Heidelberg und die in der NS-Zeit aufgrund ihrer jüdischen Herkunft entlassenen Wissenschaftler nach 1945 in: Daniela Gress (Hrsg.), Minderheiten und Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Aspekte einer vielschichtigen Beziehungsgeschichte, Heidelberg 2019, S. 137-166.

Daniela Gress/Birgit Hofmann, Wissenschaftlicher Perspektivwechsel mit Mehrwert: Der Arbeitsbereich “Minderheitengeschichte und Bürgerrechte in Europa” am Lehrstuhl für Zeitgeschichte, in: Freundeskreis des Historischen Seminars e.v. (Hrsg.), Mitteilungen aus dem Historischen Seminar, 4 (2015), S. 34-37.

Vortrag/Paper am 2.10.2016: Migration und Integration in Europa nach 1945 im Rahmen der Wieslocher Integrationsgeschichten

Vortrag zum Thema „Antisemitismus und Antiziganismus im Ostblock“ auf dem Symposium „Die Angst vor dem Anderen“, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, 5.6.2016

Interview zum Thema Rechtspopulismus in Europa, „Rechtsparteien und fremdenfeindliche Anschläge beschädigen das „Gemeinwesen““, in: HNA, 3.6.2016.

Endnoten:

[1] Hannah Arendt, We Refugees, in: Marc Robinson (Hrsg.), Altogether Elsewhere. Writers on Exile, Boston/London 1996, S.110-119, hier S. 119.

[2] Zur Entstehung von Minderheitenrechten grundlegend: Carole Fink, Defending the rights of others: The Great Powers, the Jews, and international Minority Protection, 1878 – 1938, Cambridge u.a. 2004.

[3] Vgl. Peter Pernthaler, Die Entstehung des völkerrechtlichen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes im 19. und 20. Jahrhundert, in: Christoph Pan/Pfeil, Beate Sibylle (Hrsg.), Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa, Handbuch der europäischen Volksgruppen (Bd. 3), Wien 2006; Jennifer Jackson Preece, National minorities and the European Nation-States System, Oxford 1998.

[4] Vgl. Eric D. Weitz, A World Divided. The global struggle for human rights in the age of nation-states, Princeton 2019, S. 162; vgl. auch Sarah Pritchard, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz: historische und neuere Entwicklungen, Berlin 2001, S. 51 ff.

[5] Analog zur „Erfindung der Nation“ bzw. den „Imagined Communities“, als Grundlagenwerk vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 2006; Eric Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780, Cambridge 1990.

[6] Konrad Köstlin, Minorities all? Ein Begriff als Kulturmuster, in: Cornelia Eisler/ Silke Göttsch-Elten (Hrsg.), Minderheiten im Europa der Zwischenkriegszeit. Wissenschaftliche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion, Münster/New York 2017, S. 13-33, hier S. 14.

[7] Vgl erneut v.a. Weitz, A World Divided. Das heißt auch, dass Frontstellungen und Zuschreibungen essentieller Eigenschaften von Minderheiten historisch kontingent sind, sich Abgrenzungen und Allianzen im historischen Verlauf ändern können; als frühes Standardwerk vgl. Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1960. Gemeinsam mit der polnischen nationalen Minderheit, deren Grundstruktur aber einen anderen Charakter aufwies, da sie aus der Teilung Polens hervorging, wurden innerhalb der Minderheiten Communities und Medien bahnbrechende Gedanken entwickelt, was den Minderheitenschutz anging; zur jüdischen Minderheit im Bismarckreich vgl. u.a. Fritz Stern, Gold und Eisen: Bismarck und sein Bankier Bleichröder, München 2008; Hans Henning Hahn/Peter Kunze (Hrsg.), Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999.

[8] Eric D. Weitz betont, dass gerade die Anerkennung als Minderheiten von Juden und Armeniern und die Tendenz ihrer Vertreter, sich auf verbriefte Rechte und auf die Staatsführungen europäischer Länder in deren Durchsetzung zu verlassen, verknüpft ist mit Pogromen und Gewalt gegen diese, vgl. erneut Weitz, A World Divided, S. 160 ff. Zu diesem vgl. Thema auch Michael Mann, Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007; erneut Fink, Defending the Rights of Others; Dies., Minority Rights as an International Question, in: Contemporary European History, 2000, Bd. 2, S. 385–400; Minderheitenschutzvertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten und Polen (Versailles, 28. Juni 1919).
Vgl. zu dieser Thematik u.a. auch Umberto Corsini/Davide Zaffi (Hrsg.), Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen, Berlin 1997; Richard Blanke, The German minority in interwar Poland and German foreign policy. Some reconsiderations, in: Journal of Contemporary History, 25 (1990), S. 87–102.
Vgl. Cornelia Eisler, Minderheiten als volkskundliches Kompetenzfeld? Das Konzept des Grenz- und Auslandsdeutschtums in der Weimarer Republik, in: Dies./ Silke Göttsch-Elten (Hrsg.), Minderheiten im Europa der Zwischenkriegszeit. Wissenschaftliche Konzeptionen, mediale Vermittlung, politische Funktion, Münster/New York 2017, S. 43-67. Als Quellen dienten mir z.B. die Nation und Staat: Deutsche Zeitschrift für das europäische Nationalitätenproblem, 1927–1944 sowie auch Mitteilungen über die deutschen Volksgruppen in Europa und über allgemeine Nationalitätenprobleme. Verband der deutschen Volksgruppen in Europa, erschien zwischen 1936 und 1940.

[9] Holly Case, The Age of Questions. Or A first attempt at an aggregate history of the Eastern, Social, Woman, American, Jewish, Polish, Bullion, Tuberculosis, and many other questions over the Nineteenth Century, and beyond, Princeton/Oxford 2018.

[10] Vgl. dazu auch Jennifer Jackson Preece: National minorities and the European nation-states system, u.a. 2006.

[11] Diese Politik wurde verstärkt nach dem Machtantritt Mussolinis und auf Grundlage der Gedanken des Nationalisten Ettore Tolomei in Italien eingesetzt, um eine kulturelle Angleichung von Minderheiten zu erreichen; so galt beispielsweise ab 1924 italienisch als einzige Amtssprache; vgl. dazu Claus Gatterer, Im Kampf gegen Rom – Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien, Wien/Frankfurt/Zürich 1968; vgl. 15.10.1925: Königliches Gesetzesdekret Nr. 1796 betreffend die Benutzung der italienischen Sprache, in: Gazzetta Ufficiale, Nr. 250, 27.10.1925, dt. Übersetzung online hier: https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/zis/library/19251015.html [letzter Zugriff: 5.5.2022].

[12] Ukrainian Minorities in Poland. Petition of 1 December 1928 from Mr. Petrouchewytch, R2090/4/8904/222, League of Nations Secretariat, United Nations Library & Archives Geneva.

[13] Vgl. z.B. in einem zeitgenössischen Artikel der Times, Promoting the League. International Conference at Brussels, in: The Times, 12.2.1919.

[14] Vgl. statt vieler anderer u.a. William Barth, Minority Rights, Multiculturalism and the Roma of Europe, in: Nordic Journal of International Law, 2007, S. 363-406; David Galbreath, European organizations and minority rights in Europe: On transforming the securitization dynamic, in: Security Dialogue, 2012, S. 267-284. Zsuszanna Gerner (Hrsg.), Minderheitendasein in Mittel- und Osteuropa – interdisziplinär betrachtet. Hamburg 2011; Michael Johns, “Do as I Say, Not as I Do”. The European Union, Eastern Europe and Minority Rights, Thousand Oaks 2003; Max van der Stoel, Peace and stability through human and minority rights. Speeches by the OSCE High Commissioner on National Minorities, hrsg. von Wolfgang Zellner, Baden-Baden 2001; Mohammad Shahabuddin, “Ethnicity” in the International Law of Minority Protection. The Post-Cold War Context in Perspective, in: Leiden Journal of International Law, 2012, Anna Triandafyllidou, Anna, Migrants and ethnic minorities in post-Communist Europe. Negotiating diasporic identity, in: Ethnicities (2009), S. 226-245.

[15] Idealtypisch gesprochen finden seit den 1960er-Jahren, aber nochmals verstärkt in den letzten Jahren in Europa transnationale Debatten statt um die Modelle des multikulturellen (britischen), des ethnisch geprägten (deutschen oder osteuropäischen) und des republikanischen (französischen) Integrations- und Staatsbürgerkonzepts, die alle sukzessive aufgrund der Frage nach Minderheitenintegration in die Krise geraten sind und unterschiedliche spezifische Rechte für Minderheiten vorsehen. Vgl. Martin A. Schain, The Politics of Immigration in France, Britain and the United States. A comparative Study, New York 2008, S. 89-119. Diese Regime bildeten sich vor dem Hintergrund unterschiedlicher Traditionen – in Frankreich aus der republikanischen Nationsidee, in England vor dem Hintergrund des „Empire“. Vgl. Zu Nationskonzepten: John Breuilly, The State and Nationalism, in: Montserrat Guibernau/John Hutchinson (Hrsg.) Understanding Nationalism, Oxford 2001, 32-52. Vgl. u.a. Andrew Cardozo/Louis Musto (Hrsg.), The Battle over Multiculturalism, Bd. 1, Ottawa 1997; Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit Kommentaren von Amy Gutmann, Steven C. Rockefeller, Michael Walzer und Susan Wolf. Mit einem Beitrag von Jürgen Habermas, Frankfurt/Main 1993. Sowohl die in Europa seit 1945 entstandenen muslimischen Minderheiten wie auch traditionelle Minderheiten haben sich zunehmend organisiert; die Staatsverträge etwa mit Sinti und Roma in Deutschland sind Konkretisierungen der minderheitenrechtlichen Kultur und Anerkennung, für die wiederum Minderheitenvertreter wie etwa Romani Rose sich kontinuierlich einsetzen mussten.

[16] Vgl. z.B. Martin A. Schain, The Politics of Immigration in France, Britain and the United States. A comparative Study, New York 2008, S. 89-119; Heinz Ulrich Brinkmann/Haci-Halil Usculan (Hrsg.): Dabeisein und Dazugehören. Integration in Deutschland, Wiesbaden 2013.

[17] Vgl. zu Deutschland versus Frankreich als ein Beispiel Dietmar Loch: Immigrant Youth and Urban Riots: A Comparison of France and Germany, in: Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 35, No. 5, 2009, S. 791-814.

[18] Vgl. Heike Hagedorn: das Ende eines Gegensatzes: Konvergenz der deutschen und französischen Einwanderungspolitik, in: Bernhard Santel et al. (Hrsg.): Einwanderung im Spiegel sozialwissenschaftlicher Forschung, Opladen 200, S. 11-40. Der ehemalige britische Premier Cameron bemerkte, der Multikulturalismus habe Segregation gefördert und verschiedene Kulturen dazu ermutigt, unabhängig voneinander und losgelöst von der Mehrheitsgesellschaft zu existieren. Frankreich hat immer wieder strengere Regeln des Zugangs zur Staatsbürgerschaft ausgerufen und damit das „ius solis“-Prinzip geschwächt, während Deutschland es gestärkt hat.

[19] Vgl. dazu das Dissertationsprojekt von Daniela Gress, Dissertationsprojekt: „Protest und Selbstbestimmung. Bürger- und Menschenrechtsbewegungen der Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland“ (Arbeitstitel); Nachgeholte Anerkennung. Sinti und Roma als Akteure in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, in: Philipp Neumann-Thein/Daniel Schuch/Markus Wegewitz (Hg.): Organisiertes Gedächtnis. Kollektive Aktivitäten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen, Göttingen 2022; Geburtshelfer einer Bewegung? Die mediale Kampagne der Gesellschaft für bedrohte Völker für Bürgerrechte deutscher Sinti und Roma, in: Birgit Hofmann (Hg.): Menschenrecht als Nachricht. Medien, Öffentlichkeit und Moral seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2020, S. 267-306.

[20] Vgl. Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt 2007; Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008; Hans-Günter Kleff, Vom Bauern zum Industriearbeiter. Zur kollektiven Lebensgeschichte der Arbeitsmigranten aus der Türkei, Ingelheim 1985, S. 150-160; Walterh Müller-Jentsch, Die spontane Streikbewegung 1973, in: Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch und Eberhard Schmidt (Hrsg.), Gewerkschaften und Klassenkampf. Kritisches Jahrbuch 1974, Frankfurt a.M. 1974, S. 44–54.

[21] Vgl. etwa Werner Bergmann, Geschichte des Antisemitismus, München 2002; Walter Laqueur, Gesichter des Antisemitismus. Von den Anfängen bis heute, Berlin 2008.

[22] Vgl. Barḳai, Avraham, „Wehr dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893-1938, München 2002; Birnbaum, Pierre (Hrsg.), Paths of Emancipation. Jews, States, and Citizenship, Princeton NJ 1995.

[23] Vgl. grundlegend Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000; Sylvia Hahn, Historische Migrationsforschung, Frankfurt a. M. 2012; Jochen Oltmer, Migration im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013. Sowie als neuere, hervorragende Geschichte: Patrice Poutrus, „Umkämpftes Asyl“, Berlin 2019.

[24] So wurde der lange verhandelte „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ verabschiedet. Dieser trat aber erst 1976 in Kraft. Enthalten sind neben Menschenrechten die Verpflichtung der Nichtdiskriminierung von Minderheiten aufgrund von ethnischen, religiösen und sprachlichen Kategorien, ferner ist das Recht zur Ausübung der eigenen Kultur und Religion festgeschrieben; ferner wird Hassrede bzw. Hass- und Kriegspropaganda verboten. Vgl. Gesetz zu dem Internationalen Pakt vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte, in: Bundesgesetzblatt, Teil II, Nr. 60, 20.11.1973.

[25] Nun waren zahlreiche Roma betroffen, die zuvor im Vielvölkerstaat Jugoslawien als Staatsbürger gelebt und hierdurch Schutz genossen hatten. Das Problem betrifft auch die russische Minderheit in Estland, Lettland und teilweise Litauen, vgl. z.B. Claude Cahn, Minorities, Citizenship and Statelessness in Europe, in: European Journal of Migration and Law, 14, 2012, S. 297-316.

[26] In den Richtlinien zur Anerkennung neuer Staaten vom 16.12.1991 machte die EG deshalb die Gewährleistung hinreichenden Minderheitenschutzes zur Vorbedingung des EU-Beitritts. Initiativen des Europarats bemühten sich etwa um den Schutz von „Regional- und Minderheitensprachen“ (1992). Minderheitenrechte existieren via Europarat und nur zum Teil bindend für die dort vertretenen Länder, so im „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“ (1995) sowie der „Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen“ (1998).

[27] Vgl. die ursprüngliche Fassung: Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000/C 364/01). Damit verbunden ist das Verbot der Diskriminierung u.a. „insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, […], der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung“; genannt wird hier auch die „Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit“.