Einen Schatz aufheben: Blog

Sommerlektüren — heute: Der schöne Sommer, von Cesare Pavese

Paveses für mich immerschönen Sommer habe ich während des Studiums von einer Dichter-Kollegin empfohlen bekommen — in einer Zeit, in der ich leichtfertig von mir selbst und von andern als angehende Schriftsteller ausging. Die Freundin schrieb auf jeden Fall wunderbare Gedichte, wir trieben uns zusammen in Literaturgruppen herum, kochten, besuchten Feste an stillgelegten Bahnhöfen und tranken Wein. Die Erinnerung an diese Tage ist für mich untrennbar mit Paveses Buch verbunden, das jene Sehnsucht des Jungseins literarisch spiegelt: Es ist die Lust auf Abenteuer, auf Freiheit, aber auch der Wunsch, an einem Ort zu sein, an dem man bleiben und zuhause sein darf.

Bei Pavese (1908-1950) ist diese Sehnsucht beheimatet im Italien der vierziger Jahre. Es ist die Zeit seiner eigenen Jugend: Als junger Mann schrieb er Gedichte, war unter Antifaschisten, war zugleich, da er auf eine Stelle im Schuldienst hoffte, offiziell Mitglied der faschistischen Partei Italiens. Er deckte Freunde im Widerstand, wurde denunziert und verbannt, schrieb Tagebuch. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat er in die KPI ein. In seinen Büchern gehörte sein Ohr ohnehin den Armen. Auch im „schönen Sommer“ sucht er die Plätze des Mangels auf, und er leiht seine dichterische Stimme den „Mädchen“. Es sind junge Frauen aus der Unterschicht, die von einem anderen Leben träumen. Sie suchen etwas bei den Malern, das sie selbst kaum benennen können, wollen teilhaben an der Kunst, der in dieser wohnenden Verheißung. Doch die Künstler sind Männer, eitel, sie werben die Mädchen als Modell an, haben Liebschaften mit ihnen, benutzen sie.

Von der Stimmung des Aufbruchs bleibt manchmal, wenn die Sommer der Jugend zu Ende sind, ein schaler, herbstlicher Geschmack im Mund. Von diesem erzählt Pavese. Aus der Sicht derer, die wenig haben, aus der Sicht der Frauen, aus Sicht seiner Hauptfigur Ginia, die in einem Schneideratelier arbeitet und die eine unstillbare Hoffnung antreibt, die ihre Sexualität entdeckt und gedemütigt wird. Es bleibt nur die Sehnsucht nach dem kommenden Sommer.

Das schmale Buch, Teil einer Trilogie beginnt mit Sätzen, die ich sehr liebe:

„Damals war immerzu Festtag. Die Mädchen brauchten nur aus dem Haus zu treten und über die Straße zu gehen, da gerieten sie geradezu in einen Rausch; alles war, besonders nachts, so schön, daß sie, wenn sie todmüde heimkamen, noch immer hofften, daß irgend etwas passierte.“

Cesare Pavese, Der schöne Sommer (im Original: La bella estate), erschien erstmals 1940.

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Lebensthema „Prager Frühling“

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 68 überfielen Truppen des Warschauer Pakts die Tschechoslowakei. Der „Prager Frühling“ ist mir Lebensthema; die Frage nach der Reaktion „des“ Westens war Fokus meiner Dissertation, die 2016 den Hans-Rosenberg-Gedächtnispreis erhielt. Wie wird ein Ereignis, wird ein Zusammenhang, wird ein Thema so wichtig? Neben dem wissenschaftliche Interesse gibt es oft emotionale Gründe, die man sich nicht immer klarmacht, die da sind, mitschweben. Vielleicht war das bei mir die deutschböhmische Herkunft meines Vaters. Der Schüleraustausch mit Prag 1990, als wir durch eine offene, sich verändernde Stadt liefen, als Gastschülerinnen. Oder das frühe Interesse für Diktaturen und die Frage, wie man sie überwindet — das erste Buch, das mich damit konfrontierte, hatte ich aus der Stadtbücherei, es war ausgemustert, und innen gab es ein gemaltes Bild, von „Arbeitern im Winterpalast“ 1917, als die Menschen mit der „Oktoberrevolution“ Hoffnung verbanden.

Mich hat das Experiment eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, für das Alexander Dubček schon physiognomisch zu stehen schien, immer bewegt. Die Reformen, die eine kommunistische Partei mitten im Kalten Krieg einleitete, wo hätten sie hingeführt? Der „Prager Frühling“ gewann im Laufe des Frühjahrs 1968 eine ganz eigene Dynamik — die neu entstehende Zivilgesellschaft forderte mehr: mehr Freiheit, mehr Veränderungen. Das erhöhte den Druck auf Dubček, der nun von innen wie von außen unter Beschuss geriet. Das Ende des eigenen tschechoslowakischen Wegs zum Sozialismus war ein globales Medienereignis. Die Bilder von den Panzern in der Prager Innenstadt gingen um die Welt. Als ich in der tschechischen Hauptstadt wohnte, lief ich fast täglich über den Wenzelsplatz — Versammlungsort der Tschechen und Slowaken damals, Ort der Selbstverbrennung von Jan Palach, für den ein unscheinbares Denkmal existiert, und Agora der Bürgerinnen und Bürger 1989, als der Kommunismus an sein Ende gelangte.

Was hatte der „Prager Frühling“ mit „uns“, mit den westlichen Staaten zu tun? Diese Frage ist nicht erst vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs wieder aktuell geworden. In meiner Dissertation habe ich zu dieser Frage in Archiven in Deutschland und Frankreich geforscht, habe Dokumente des CIA ausgewertet. Mich interessierte die Dynamik zwischen den „Referenzakteuren“, wie ich die westlichen Staaten nannte. Als nicht direkt involvierte Akteure hing vom Handeln Europas und der USA dennoch viel ab — wie heute.

Wiederentdeckung: Caius ist ein Dummkopf

Als Kind las ich „Caius ist ein Dummkopf“, jetzt mein Kind.
Ich glaube, mein Vater hatte es mir gegeben, der Lateinlehrer war.
Als ich vorn ins Buch schaute, sah ich, dass der Autor Henry Winterfeld in Deutschland geboren wurde. Und dass er als Jude fliehen musste, wie ich dann las.
Wie wenig wusste ich natürlich als Kind von den vielen Autorinnen und Autoren, die vom NS verfolgt oder ermordet wurden (wie die Erfindern des „Nesthäkchen“ Else Ury, 1943 ermordet in Auschwitz — die Buchserie wurde nach 1945 ungerührt nochmals verfilmt übrigens). Henry Winterfeld konnte fliehen — knapp.
Sohn eines Musikers und Dirigenten, war er selbst zuerst als Komponist tätig. Winterfeld erfand als Vater Geschichten für seinen kranken Sohn, so entstand sein erstes Kinderbuch „Timpetill — Die Stadt ohne Eltern“.
Nach der Machtübernahme Hitlers und der Nationalsozialisten ging Winterfeld nach Frankreich, wurde interniert, konnte in die USA emigrieren, deren Staatsbürgerschaft er später annahm.
Winterfeld schrieb auch in Amerika noch in der deutschen Sprache.
„Caius“ ließ für mich das Leben im antiken Rom plastisch und lebendig werden.
Das ist für mich unendlich wertvoll.

Notiz am Morgen

Ich staunte nicht schlecht, als ich die mittelgroße amerikanische Kleinstadt nach und nach aus dem Morgenkaffee aufsteigen sah.

Väter waren

Mein Text „Väter waren“ wurde vom wunderbaren Team von „Read in Red“ veröffentlicht. Wer etwas über die Väter der 1970er-Jahre wissen will, bitte lesen! Wie auch natürlich das ganze Projekt, das Literatur und Theorie vereint.

Shortlist 2023

Wie habe ich mich gefreut, 2023 auf der Shortlist des Preises der Heidelberger Autor:innen zu stehen. Hier könnt ihr alle Essays lesen, meiner handelte vom Wohnen und Wünschen in der Gegenwartsliteratur.